Von Lucien Looser
Die deutsche FDP ist nicht mehr im Bundestag vertreten. Dadurch wird der Europaabgeordnete Holger Krahmer zu einem der letzten konsequent-liberalen Politiker des Landes, der noch ein bedeutendes Amt bekleidet. Der Zürcherin hat er exklusiv ein Interview gewährt.
Zürcherin: Herr Krahmer, Sie sind in der DDR aufgewachsen. Wie war Ihre Kindheit? Was war damals besser?
Holger Krahmer: Ich glaube, meine Kindheit in den siebziger und achtziger Jahren unterschied sich nicht sonderlich von einem vergleichbaren Kind auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs. Rückblickend betrachtet sind die materiellen Entbehrungen, die man in der DDR erlebt hat vielleicht sogar hilfreich gewesen, weil man die Verfügbarkeit von nahezu allem, was man sich gern wünscht, heute oft als allzu selbstverständlich empfindet. Ob man eine Kindheit in positiver Erinnerung behält, hängt weniger vom jeweiligen politischen System ab, als mehr vor allem von Eltern, Familie und dem sozialen Umfeld. Und da habe ich allen Grund dankbar zu sein.
Z: Was hat Sie im totalitären System am meisten in Ihrer Entwicklung gehindert?
Holger Krahmer: In der DDR war alles vorgegeben. Der Lebensweg war quasi vorgezeichnet. Schule, Ausbildung, Beruf, Familie, Rente. Einerseits musste man sich keine allzu großen materiellen Sorgen machen. Andererseits waren die Möglichkeiten persönlicher Entfaltung doch recht eingeschränkt. Rückblickend und mit dem Wissen von heute ist klar, dass die soziale Sicherheit, die der warme Schoß des sozialistischen Staates versprach, ein teuer erkauftes Versprechen war, das irgendwann zusammenbrechen musste. Auch erst hinterher bewusst geworden ist mir die weitreichende politische Indoktrination, die im staatlichen Bildungssystem der DDR vermittelt wurde. Die Einheitsmeinung hin zum Endziel des Kommunismus war ein Dogma. Die Entfaltung individueller Persönlichkeiten, die selber denken und selber fragen, war unerwünscht. Ich bin mir allerdings manchmal nicht so sicher, ob das heute, gerade in Deutschland, so grundlegend anders ist.
Z: In der Schweiz können wir nicht verstehen, warum so viele Leute, die den Sozialismus miterlebt haben, trotzdem die Nachfolgerpartei der einstigen SED wählen.
Holger Krahmer: Das ist ja kein Phänomen der früheren DDR. In allen ehemaligen Ostblockländern sind die ehemaligen kommunistischen Parteien feste Größen im politischen System. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Einerseits muss man verstehen, dass der Totalzusammenbruch eines Systems Menschen zurückgelassen hat, die sich als Verlierer fühlen. Viele Menschen tun sich auch schwer, mit den Unsicherheiten, die eine freiere Gesellschaft mit sich bringt, umzugehen. Man sehnt sich zurück nach der Geborgenheit, die einem der Staat vermittelt hat und nach der Zeit, wo man sich weniger Gedanken um die eigene Zukunft machen musste. Ich glaube auch, viele Menschen denken immer noch, es muss so was wie einen dritten Weg geben. So eine Art DDR mit Westgeld und Reisefreiheit. Die linken Parteien verstehen es ja auch sehr gut, diese Illusion aufrecht zu erhalten. Für mich erstaunlich ist immer wieder, wie sehr viele Menschen einfach ausblenden, dass der Sozialismus nicht gescheitert ist, weil er falsch organisiert wurde, sondern dass er dauerhaft ökonomisch zum Scheitern verurteilt ist.
Z: Es ist nicht so, dass sie im Europaparlament untergehen. Mit ihren klugen Voten nehmen Sie immer wieder auf sympathische Weise die Mehrheit aufs Korn. Über Schlagkraft verfügen Sie aber nicht. Sollten Sie nicht wie Ihr Kollege Nigel Farage auftreten?
Holger Krahmer: Ich denke, dass wir zulassen müssen, mit dem Zustand der derzeitigen EU kritischer umzugehen. So wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt hat, ist sie eben keine Hüterin von Freiheit, Selbstbestimmung und Marktwirtschaft mehr, sondern eher zu einer Bedrohung derselben geworden. Die Frage ist, wie man diese Kritik artikuliert. Die Komplettablehnung der EU ist für mich nicht der richtige Weg. Für mich geht es um die Frage, welche EU wir wollen und nicht ob wir sie überhaupt wollen. Insofern ist die UK Independence Party auch für mich nicht der Maßstab. Es kommt auch immer darauf an, dass man Kritik integer formuliert, damit man ernst genommen wird. Das kann man mit einem britischen Hintergrund anders machen, als man es aus Deutschland heraus tun kann. Die etablierten Parteien, gerade die liberalen unter ihnen, sollten sich nicht an den Populisten abarbeiten oder mit Zeigefingern in linke und rechte Sümpfe zeigen, sondern sich fragen, warum so viele Menschen die EU kritisch sehen und die Zahl der Kritiker wächst. Wenn extreme politische Ränder gestärkt werden, liegt das nicht an den extremistisch orientierten Parteien, sondern am Versagen der etablierten. Zu dieser tiefgreifenden Analyse scheint mir gerade meine eigene Partei noch nicht wirklich in der Lage zu sein. Wir müssen diese selbstauferlegte Zuspitzung auf „proeuropäisch oder antieuropäisch“ überwinden. Denn darum geht es gar nicht. Freiheitliche Politik ist für mich ganzheitlich. Man muss sie auch auf die EU anwenden anstatt dogmatische Zäune um die Europapolitik herum zu ziehen und mit Worthülsen und Phrasen jede offene Diskussion abzuwürgen. „Die EU hat einen Preis, aber sie hat auch einen Wert“ sei nur beispielhaft als eine von diesen inhaltsleeren Phrasen genannt.
Z: Sie selber bezeichnen das Europaparlament als Illusion, als zentralstaatliche Institution ohne demokratische Berechtigung. Warum gehen Sie noch hin und legitimieren so die Vorgänge?
Holger Krahmer: In der Tat halte ich Demokratie auf einer so abstrakten und weit vom Bürger entfernten politischen Ebene für schwer organisierbar. Deshalb kann eine „europäische Demokratie“ auch nur sehr begrenzt sein. Demokratie braucht Bürgernähe. Die ist für das Europäische Parlament kaum darstellbar. Ich schätze, achtzig Prozent der Menschen, die ich im Laufe einer Legislatur als Abgeordneter zu sehen bekomme, sehe ich einmal und nie wieder. Eine notwendige Rückkoppelung über zu treffende Entscheidungen zwischen Volksvertreter und Volk ist kaum möglich. Das unterscheidet das Europäische Parlament klar von nationalen und regionalen Parlamenten. Was mich selbst betrifft: Man kann zwei Schlussfolgerungen daraus ziehen: Man gibt das Mandat auf und zieht sich zurück. Das Mandat wird am Tag darauf von jemand anderem wahrgenommen. Oder man kämpft für seine Standpunkte an dem Platz an den man gewählt wurde. Es gab in den Neunziger Jahren mal eine unabhängige Anzeigenkampagne für die deutsche FDP zu einer Bundestagswahl mit dem Slogan: „Wir wählen die FDP weil sie stören soll“. Vielleicht sollte gerade die FDP sich ihres Auftrags bewusst werden, dass sie in überregulierenden politischen Systemen stören soll. Gerade im Europäischen Parlament sind Liberale im besten Sinne des Wortes als Störer gefragt.
Z: Die Deutsche FDP ist auf nationaler Ebene nicht mehr vertreten. Es sieht aber nicht so aus, als würde der Kurs der Partei geändert. Auch weil Kapitäne wie Frank Schäffler und Sie die Basis nicht von konsequent-liberalen Ideen überzeugen könnten. Ihre persönlichen Wahlresultate waren nicht überragend. War es das für die FDP? Verschwindet sie der Versenkung?
Holger Krahmer: Es ist dramatisch, welche Fehler gemacht worden. Das historisch beste Wahlergebnis für die FDP wurde in vier Regierungsjahren verspielt. Verloren wurde die Bundestagswahl 2013 übrigens schon ein halbes Jahr nach der vorhergehenden. Die Umfragen für die FDP waren schon 2010 bei fünf Prozent. Man kann eben nicht ein fulminantes Steuerreformversprechen machen und dann nichts davon liefern. Hinzu kamen krasse Fehlentscheidungen wie die Zustimmung zur Energiewende oder das kritiklose Hinnehmen des ersten Griechenland-Rettungspakets, dessen weitergehende Dimensionen offensichtlich niemand erkannte und mit dem das Euro-Rettungsdesaster begann. Die FDP hat in Regierungsverantwortung faktisch Ziele von anderen Parteien verwirklicht, mit denen sie im Wettbewerb steht. Man muss von Sinnentleertheit der parlamentarischen Präsenz sprechen. Man konnte nicht mehr sagen, für was sie steht. Abschreiben sollte man die FDP allerdings nicht. Man merkt doch schon wenige Wochen nach der Bundestagswahl, wie sehr im Bundestag eine liberale, ordnungspolitische Stimme fehlt. Dort agieren nur noch sozialdemokratische Parteien. Das ist eine große Chance für die FDP. Sie zu nutzen setzt voraus, dass wir im reinen mit uns selbst werden und lernen wieder Kante zu zeigen. Die Zeit, in der wir versuchen ein bisschen sozialdemokratisch und ein bisschen grün zu sein, sollten wir hinter uns lassen.
Z: Sie sind einer der wenigen Politiker, welche die Widersprüche zum sogenannten „menschverursachten Klimawandel“ anprangert. Hatten Sie wegen ihrer Einstellung Probleme innerhalb ihrer Partei?“
Holger Krahmer: Wenn man eine eigene Meinung vertritt, schafft man sich nicht nur Freunde. Gelegentlich auch in der eigenen Partei nicht. Ich habe allerdings nie verstanden, wie es eine liberale Partei mit sich selbst in Einklang bringen kann, das Weltklima in einhundert Jahren auf zwei Grad mit politischen Maßnahmen feinsteuern zu wollen. Liberale sind doch die Kinder der Aufklärung. Man muss kein Wissenschaftler sein um sehr schnell zu erkennen, dass hier eine gehörige Anmaßung von Wissen bis hin zu Glaubensbekenntnissen im Spiel ist um so ein Ziel ausrufen zu können. Ich hatte allerdings immer den Eindruck, dass die Bereitschaft bei diesem Thema offen zu diskutieren, von allen deutschen Parteien in der FDP immer am größten war.
Z: Sie sind Mitgründer des Liberalen Aufbruchs. Wie sieht die Zukunft dieser Organisation aus?
Holger Krahmer: Der Sinn dieser Bewegung war nicht, die FDP zu spalten oder Unruhe aus Prinzip zu stiften, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass sich die Partei weit weg von ihren Wurzeln, bis hin zur politischen Beliebigkeit, entwickelt hat. Und das sie erfolgreich sein kann, wenn sie sich auf ihre Wurzeln besinnt. Für mich ist es erschreckend, mit wieviel Feindseligkeit dem begegnet wird. Unabhängig davon, wie sich das weiter entwickelt: Deutschland braucht keine fünfte sozialdemokratische Partei. Spätestens seit dem Ausgang der Bundestagswahl sollten wir das wissen. Es fehlt eine freiheitliche, staatsskeptische und marktwirtschaftliche Stimme, mit klarem ordnungspolitischem Kompass. Das ist zwar gerade in Deutschland ein politisch unbequemes Programm. Aber eine groß genügende Anzahl von Bürgern, die so eine Partei wählen würden, ist eben auch da. Es ist eine große Chance für die FDP.
Z: Herr Krahmer, Sie sagen, sie wollen kein Karrierepolitiker sein, eine dritte Amtszeit komme nicht in Frage. Sie ziehen sich also aus der Politik zurück und wechseln in die Privatwirtschaft? Wie sieht Ihre Zukunft aus?
Holger Krahmer: In der Tat habe ich mich immer als Politiker mit Beruf und weniger als Berufspolitiker verstanden. Ein Parlamentsmandat ist für mich eben kein Beruf, sondern Dienst am Volk auf Zeit. Politik war für mich immer Leidenschaft und nicht Selbstzweck oder gar Versorgungsanstalt. Ich bin in einer Lebensphase, in der ich auch immer noch Lust auf neue Herausforderungen habe. Allerdings habe ich die Rechnung ohne meinen Heimatlandesverband, die sächsische FDP, gemacht. Die sächsische FDP ist so eine Art gallisches Dorf, das völlig anders tickt. Dort hat man mich auf einem Landesparteitag einstimmig aufgefordert, gerade jetzt noch einmal in den Ring zu gehen und mit einer erneuten Kandidatur Flagge zu zeigen. Ich habe das angenommen, auch weil ich nicht den Eindruck erwecken wollte, ich gehe in schwierigen Zeiten einfach von Bord. Dennoch bleibt mein Ziel, längerfristig in die Privatwirtschaft zurückzukehren. Viele lachen über die sächsische FDP und ihre eigenen Wege bzw. verstehen sie nicht. Aber Klarheit, Klartext und Mut haben die sächsische FDP von einem Prozent zu zehn Prozent und in die letzte Regierungsverantwortung geführt, die die FDP in Deutschland noch hat. Und wenn der Vergleich mit dem gallischen Dorf schon bemüht wird: Man sollte auch nicht vergessen, dass das gallische Dorf nie von den Römern besiegt worden ist.
Z: Neben Ihrem politischen Amt sind Sie Gründer und Mitinhaber einer Kaffeerösterei. Erzählen Sie uns etwas über Ihr Unternehmen?
Holger Krahmer: Da ist aus dem anfänglichen Hobby eine ernste Sache geworden. Im Grunde geht es um ein altes Handwerk. Reine Sorten aus aller Welt handwerklich zu rösten, entlockt dem Kaffee einzigartiges Aroma und beseitigt Reiz- und Bitterstoffe. Kaffee ist etwa so vielfältig wie Wein. Leider ist das durch die Industrialisierung der Röstung etwas in Vergessenheit geraten. Es ist schön zu erleben, dass sich offenbar immer mehr Menschen auf anspruchsvollen Genuss und Konsum mit besonderer Qualität besinnen, auch wenn er etwas teurer ist. Davon profitiert unser kleines Unternehmen.
Z: Sie besuchen öfters die Schweiz. Was gefällt Ihnen bei uns? Wo ist es am schönsten?
Holger Krahmer: Früher empfand ich es immer als spießig, wenn man zweimal an denselben Ort in den Urlaub fährt. Oder vielleicht ist es auch ein Zeichen, dass man älter wird und weniger abenteuerlustig ist. Ich bin aber nach mehreren Urlauben in Graubünden zum großen Schweiz-Fan geworden. Der Erholungswert in den Bergen ist fantastisch. Und ich bewundere jedes Mal aufs Neue, wie ursprünglich und traditionsbewusst die Schweiz und die Schweizer geblieben sind, obwohl das Land von Innovationen und Modernität nur so sprudelt. Wo es am schönsten ist, kann ich erst sagen, wenn ich auch noch andere Orte kennengelernt habe. Aber das Engadin ist schon traumhaft. Und Zürich scheint mir eine der am meisten unterschätzten Städte Europas zu sein. Manchmal wünsche ich mir, Deutschland wäre politisch irgendwann im 19. Jahrhundert einen ähnlichen Weg gegangen wie die Schweiz. Bismarcks deutsche Einheit war zwar ein großer politischer Wurf. Aber der preußische Zentralismus hat uns eher nicht gut getan.
Bild: Holger Krahmer: