Einlösung eines vergessenen Versprechens
Von David Dürr
Ein neues Regime sollte es werden, ein Regime – so Robespierre vor über 200 Jahren im französischen Nationalkonvent – „in dem das souveräne Volk sich nach Gesetzen richtet, dies sein eigenes Werk sind“. Die Umsetzung in konkrete politische Strukturen war in jenen gewalttätigen und unberechenbaren Revolutionsstürmen zunächst noch völlig offen, „Demokratie“ eher Arbeitstitel für ein noch diffuses Grossprojekt als klares politisches Programm. Immerhin war zu erwarten, dass mit dem Kopf des Königs auch dessen Herrschaftsorganisation fallen und sich statt dessen eine neue und ganz andere Gesellschaftsstruktur bilden würde. Voraussichtlich eine solche, die nicht zentral bei einer absoluten Obrigkeit, sondern dezentral bei den neu entdeckten gleichen Rechten Aller anknüpfen würde. So jedenfalls die Aussicht oder, wenn man so will, das Versprechen.
Das Ancien Régime nach wie vor
Der feinfühlige Demokratiebeobachter Alexis de Tocqueville stellte ein halbes Jahrhundert nach Robespierre in „L’ Ancien Régime et la Révolution“ etwas verwundert fest, dass die Revolution mit der Vergangenheit gar nicht wirklich gebrochen hatte, sondern gegenteils daran war, die im ancien régime angelegte Herrschaftsstruktur noch weiter zu verstärken. Zwar sei das neue Regime noch immer daran, seine Regeln und Organisationen zu finden, und vielleicht mochten sich diese doch noch in eine dezentrale Gesellschaftsstruktur entwickeln. Bezeichnenderweise waren es dann weniger feinfühlige Kriegsherren, die für ein Ende der Organisationsdebatte sorgten und das durchsetzten, was sie unter dem neuen Regime verstanden: Prominent natürlich Napoléon, nicht nur in Frankreich, auch in Helvetien; später hierzulande die Siegerkantone des Sonderbundskriegs mit ihrem nationalen Bundesstaat; oder in der neuen Welt der siegreiche Nordstaatler Lincoln mit seiner berühmt gewordenen Rede von der „Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, die nicht von der Erde verschwinden möge“ – zynischerweise gehalten auf einem Soldatenfriedhof anlässlich einer Massenbeerdigung gegen Ende des Bürgerkriegs.
Mit Demokratie hatte dies wenig zu tun, dafür umso mehr mit landesweiter Monopolisierung staatlicher Macht; eine Tendenz, die seither ungebrochen anhält. Die heutigen Nachfahren von Robespierre und Lincoln haben eine grössere Machtfülle als die überwunden geglaubten Monarchien des Ancien Régime. Indem „Demokratie“ heute ungefragt Volksherrschaft und Staatsmacht umfasst, ist sie zum Paradox geworden: Denn der Staat ist nicht das Volk, er beherrscht es; und das Volk ist nicht der Souverän, es wird von ihm beherrscht. Das Demokratieversprechen wurde nicht nur nicht eingelöst, es wurde ins Gegenteil verkehrt und ging schliesslich vergessen.
Das Paradox der Demokratie
Nun mag man einwenden, dieser Staat sei zwar nicht identisch mit dem Volk, aber doch immerhin vom Volk mandatiert, es seien das Parlament und oft auch die Regierung vom Volk gewählt, es seien die Gesetze zumindest indirekt, in der Schweiz sogar direkt vom Volk beschlossen. Doch wer sich einmal die Mühe nimmt, nachzurechnen, in welchem Umfang beispielsweise die laufend zunehmenden gesamtschweizerisch geltenden Vorschriften vom angeblich so souveränen Volk angenommen worden sind, wird Erstaunliches feststellen, nämlich eine Zustimmungs- bzw. Demokratiequote von weniger als einem Prozent (siehe Kasten). Das Problem ist also nicht die oft erwähnte Tyrannei der Mehrheit, sondern die Tyrannei einer verschwindend kleiner Minderheit, einer Machtzentale, die nicht grösser ist, als es die Fürstenhöfe des Ancien Régime waren. Und ob das Blut in den Adern dieser Höflinge eine andere Farbe hat als die alte Nobilität, darf bezweifelt werden.
Warum also nicht endlich diese „schlechteste aller Staatsformen ausser allen anderen“ überwinden? Nicht indem man die Demokratie überwindet, sondern indem man sie davon befreit, eine Staatsform zu sein, indem man sie als Alternative zum Staatsparadigma versteht. Indem man sich vornimmt, es inskünftig selbst machen – ohne Staat, ohne Zentrale, ohne Machtmonopol, mit unseren eigenen, polypolistischen Strukturen, we the people!
Chance für das neue Regime
Der Zeitpunkt ist geeignet, sind doch die Jahre oder Jahrzehnte des Staatsparadigmas gezählt. Nicht ungestraft konnte diese Monopolsstruktur während derart langer Zeit wirtschaftliche Gesetzmässigkeiten verletzten, sich dem Wettbewerb entziehen, sich mit selbst beschlossenen und durchgesetzten Steuern finanzieren. Extremformen wie die sozialistischen Staaten des früheren Ostblocks sind bereits zerbrochen, Griechenland und andere vergleichbar überbordende Sozialstaaten des Mittelmeerraums werden bald folgen, weitere Staaten Europas stehen im Moment noch aufrecht, werden absehbar aber ebenfalls bankrott gehen. Auch die Organisation mit dem Namen „Schweizerische Eidgenossenschaft“ hat mit ihrer Überschuldung von 30% bzw. 30 Milliarden Franken (ohne Einrechnung der Unterdeckungen der staatlichen Sozialversicherungen) zum Überleben keine Chance.
Eine Chance hat dafür die Demokratie ohne Staat und damit die Einlösung jenes vergessenen revolutionären Versprechens. Die Schweiz eignet sich dafür speziell gut, kann sie doch den Konkurs der Bundesorganisation organisch abfedern: Zahlreiche traditionell dem Staat zugeordnete Funktionen, etwa das Polizei- und Gerichtswesen, werden von den 26 Kantonen wahrgenommen. Zudem stehen einige von diesen finanziell nicht so schlecht da wie der Bundesstaat, sodass sie noch eine gewisse Zeit den Transformationsprozess begleiten können.
Demokratie statt Staat
Allerdings müssten auch die Kantone die Regeln des neuen Regimes, dieser Demokratie ohne Staat, befolgen. Das heisst, sie müssten auf ihre Monopole verzichten, sich der Konkurrenz durch andere Kantone oder Privatanbieter stellen. Auch Zwangsmitgliedschaften, etwa für die Bewohner der jeweiligen Kantonsterritorien, müssten fallen; und damit natürlich auch der Zwang zur Zahlung von Steuern, es sei denn, man habe ihnen freiwillig zugestimmt.
Generell wird die freiwillige Zustimmung zu Normen eine wichtige Losung dieses neuen Regimes sein, was insofern auch gar nicht als Widerspruch zum traditionellen Verständnis von „Demokratie“ erscheint. Nur werden die betreffenden Normen nur noch für jene gelten, die ihnen zugestimmt haben, und nicht auch für all die vielen, deren Zustimmung rein theoretisch fingiert wird. Wer etwa Mitglied eines Kantons im herkömmlichen Sinn bleiben will und seinen Beitrag nicht nach der bezogenen Leistung, sondern nach seinem Einkommen zahlen will, kann dies selbstverständlich auch weiterhin tun. Wer dies aber nicht mehr will, soll sich anderweitig eindecken dürfen.
Dies gilt auch für sogenannte „Kernfunktionen“ des Staats, wie beispielsweise Schutz vor Übergriffen, Konfliktlösungen, Durchsetzung entsprechender Entscheidungen etc. Wie bei jedem Wirtschaftsgut wird auch hier der Bedarf nach solchen Leistungen entsprechende Angebote entstehen lassen. Natürlich wird man auf der Hut sein müssen, dass kein solcher Anbieter zum Monopolisten wird, etwa gar zum Inhaber eines Gewaltmonopols! Wie gefährlich ein solches werden kann, wird man aus der Zeit wissen, als es noch Staaten gab. Und so wird man den Fehler nicht wiederholen, einem Anbieter von Gewaltdienstleistungen zu erlauben, eine sogenannte Verfassung zu schreiben, in der er sich selbst ein Machtmomopol zuhält.
Ähnliches wird für Anliegen gelten, schwachen Gesellschaftsmitgliedern beizustehen, mit der Umwelt schonend umzugehen, Kulturgüter zu schützen, Tiere nicht zu foltern etc.: Auch sie werden entsprechende Hilfs-, Wohltätigkeits- oder Schutzorganisationen mit vielfältigen Angeboten entstehen lassen. Dies umso mehr, als Behinderungen durch staatliche Monopole entfallen werden.
Ein Paradies wird es nicht sein, dieses Nouveau Régime – aber Demokratie.
Die allermeisten der in Bern produzierten Erlasse werden vom Bundesrat und von Ämtern erlassen ohne jede Mitwirkung der parlamentarischen „Volksvertreter“.
Doch auch soweit diese zum Einsatz kommen, lässt sich nicht wirklich von Volksvertretung sprechen: Die gewählten Parlamentsmitglieder vereinigen nur rund 25% der Stimmen der rechtsunterworfenen Landesbewohner auf sich. Zudem verbietet die Verfassung den Parlamentariern ausdrücklich, von ihnen Vertretenen Weisungen entgegenzunehmen. Und schliesslich muss jeder Vertretene seinen Vertreter mit 30’000 anderen Vertretenen teilen. Das ist nicht Vertretung, sondern Zwangsdelegation mit Blankovollmacht.
Vors Volk gekommen sind bisher weniger als 3% der referendumsfähigen Bundeserlasse. Angenommen wurden sie im Durchschnitt von rund 13% der rechtsunterworfenen Bevölkerung. Dies ergibt eine Direktdemokratie-Quote von ca. 0,33 %.